Der Herbst hat auch etwas …
Von Bernd Horlbeck im August 2020
So langsam werde ich wach. Aha, es ist morgens. Wie spät ist es? Erst halb sieben? Wieso bin ich schon aufgewacht? Ah, der rechte Fuß schaut unter der Bettdecke hervor. So ist das! Ich ziehe ihn in die wohlige Wärme unter der Decke zurück. Ich stutze: Es ist aber Hochsommer und wir haben eine verdammte Hitze? Ich schaue durch das halbgeöffnete Fenster. Kein Sonnenschein, stattdessen biegen sich die Eichenwipfel hin und zurück. Jetzt nehme ich auch das herbstliche Rauschen des Windes wahr. Mich überströmt ein Gefühl wohliger Geborgenheit. Endlich der Sonnenglut entronnen, kein am Körper klebendes, von Schweiß durchtränktes Hemd mehr. Keine gefräßigen gelb-schwarzen Flugsaurier beim Frühstück, deren einziges Ziel darin zu bestehen scheint, mir das Frühstücksbrot in überdimensionalen Einzelbrocken vom Teller zu tragen.
Ich denke an Schottland Anfang Mai. Herrliche Synthese von wolkenverhangenem Himmel im Westen und blauem, schon bald milde Sonne verheißendem Untergrund an aufgerissenen Stellen im Osten. Ich werde meine Nase forsch in die milde Brise vom Meer recken, kühn durch die Heidelandschaft schreiten bis ich den torfigen Duft einer Distillery wahrnehme. Gern lasse ich mir in der leeren Kiln erklären, wie das Mälzen der Gerste vor sich geht obwohl sich in meinem Gesichtsfeld keinerlei Barley erspähen lässt – früher aber … . Heute mälzen nur noch wenige Distillerien. Aber das macht nichts, der wirtschaftliche Fortschritt eben … . Ich spüre schon, wie mir der feine Whisky Zunge und Gaumen benetzt während ich an einem ab und an knackenden Kaminfeuer stehe und wechselweise in die Glut und das goldgelbe Funkeln im Glas blinzele.
Los jetzt, nichts wie raus aus den Federn! Ein erhabener Herbsttag mit einigen Sommerremineszenzen erwartet uns. Am liebsten würde ich meinen Kilt anlegen. Na ja, wir wollen nicht übertreiben. Ein frisch gebügeltes Hemd und nach Frische statt Schweiß duftende Jeans tun es auch. Das Fenster schließe ich aber erst einmal. Ein kleiner Luftzug hat eben eine Tür mit einem kraftstrotzenden ‚Wumm‘ zugeschlagen. Das ist doch was für einen richtigen Mann! Nicht diese deprimierende, erschlaffende Hitze … . Birgit hat schon Kaffee gekocht, schön stark und heiß. Sie selbst würde lieber in der Sonne auf der Terrasse sitzen und schimpft leise vor sich hin, es wäre kein richtiger Sommer dieses Jahr. Na ja, wie Frauen eben so sind. Nach dem Frühstück werfe ich mir meine Lederjacke über. Endlich geht das wieder ohne gleich einen Hitzekollaps zu bekommen.
Dann öffne ich die Tür einen Spalt weit, um erst einmal die Frische der Herbstluft in mich einzusaugen. Ich hätte allerdings etwas umsichtiger sein sollen, denn eine gerade ihrem Höhepunkt zustrebende Windböe vollendete den Öffnungsvorgang und schlug mir die Tür heftig gegen den Kopf oder, besser gesagt, vor die Brille, woraufhin sich letztere vom Kopf lossagte, nicht ohne eine heftige Druckstelle auf meiner Nase zu hinterlassen. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihr flink hinterherspringen wollte oder ob die Tür mich mit sanfter Gewalt zu diesem unvorsichtigen Schritt veranlasst hat. Jedenfalls befand sich nunmehr mein rechter Fuß auf meiner Sehhilfe, die nun keine mehr war. Ich beschloss, die Tür zunächst wieder zu schließen bevor ich weitere Maßnahmen ergriff. Ich legte die Überreste des optischen Instrumentes zwecks späterer Reparatur sorgsam auf ein Schränkchen. Na ja, zu reparieren war da wohl nichts mehr. Die Gläser waren aber noch heil. Für den Moment gab es da aber noch meine Sonnenbrille. Sie lag im Auto vor dem Haus. Ich öffnete also wieder die Tür, jetzt allerdings mit Weitblick und Vorsicht. Die Böe war schon über sieben Berge und so weit ich ohne Brille sehen konnte, entsprach die Szenerie durchaus meinen Erwartungen, bis auf das erhoffte Blau in einer aufgerissenen Wolkendecke. Aber ich hatte ja keine Brille auf der Nase, welche übrigens noch etwas schmerzte, und manchmal ähnelt das Himmelsblau auch einem etwas tieferen Grau. Eines von beiden jedenfalls war auch so eindeutig erkennbar. Ich arbeitete mich erst einmal durch den heftiger werdenden Wind, Pessimisten nennen so etwas übertriebener Maßen auch Sturm, zu meinem Auto und mithin zu meiner Sonnenbrille durch. Da mir meine treue Lederjacke immerfort vorn aufschlug – der Knopf, den ich sicherheitshalber geschlossen hatte, hatte dem böigen Wind nicht standhalten können – spürte ich jetzt einen leichten Nieselregen auf Brust und Bauch. Letztendlich aber hatte ich die Autotür geöffnet und konnte die dringend benötigte Sonnenbrille zielsicher auf meiner schmerzenden Nase positionieren. Ich zog mich aus dem Inneren meines Autos rasch zurück und schloss behände die Tür, da der Regen durch die Öffnung nur so hineinströmte. Nun wieder mit voller Sehkraft ausgestattet, erkundete ich erneut die reale Wetterlage. Ich versuchte es zumindest. Das herabrinnende Regenwasser versperrte mir jedoch den klaren Blick durch die Gläser. Immerhin war es ja eine Sonnenbrille und da muss man in Sachen Lichtdurchlässigkeit schon kleine Abstriche machen. Aber bei allem Wischen, es wurde nicht besser, nicht der kleinste schottische Hoffnungsschimmer. Mittlerweile rann das Regenwasser aus meinen Haaren und durchfeuchtete meinen Hemdkragen eminent. Ich beschloss, meinen geplanten Herbstspaziergang samt Distillery-Phantasie-Episode aufzuschieben und mich vorerst mit deren Endprodukt zufrieden zu geben.
Also machte ich kurzerhand kehrt und wendete mich der nun boshafter Weise verschlossenen Haustür zu, natürlich nicht, ohne das mittlerweile aufgestaute Meer davor zu durchwaten. Da ich den Schlüssel in der Aufregung drinnen vergessen hatte, klingelte ich. Meine Frau öffnete nach geschätzt einer Stunde, schaute mich grimmig an und begrüßte mich mit den Worten: „Bist Du völlig bescheuert? Was rennst Du bei dem Sauwetter mit der Sonnenbrille draußen herum und machst obendrein noch alles voller Drecktapsen?“ Ich hob zu einer Erklärung an, schätzte dies im nächsten Moment jedoch als vergleichsweise nutzlos ein und begnügte mich mit der Bemerkung „Ein Scheiß-Sommer dieses Jahr!“